Torgauer IV: Widerstand im Geheimen
Die Grünflächen entlang der Torgauer Straße gehören zu den kostspieligsten Einzelprojekten innerhalb des Stadtumbau-Programms am Südkreuz. Das liegt vor allem an den Ankaufspreisen für die Flächen und den Kosten der Altlastensanierung.
Das Cherusker-Dreieck (Torgauer Straße 11a) wurde von der Bahn-Tochter Vivico für 320.000 Euro erworben. Hinzu kommen Kosten für die Beseitigung von Altlasten in Höhe von ca. 230.000 Euro. Das macht nur für diese Fläche schon mal 550.000 Euro. Nicht anders verhält es sich mit den bisher von Kleingewerbe genutzten Flächen südlich der Torgauer Straße an der Ringbahn (Torgauer Straße 17-32), die bereits 2007 zunächst von der Vivico an Private veräußert wurden. Hier musste der Bezirk aus Stadtumbaumitteln 2009 1.410.000 Euro hinlegen, und auch hier gibt es noch Altlasten abzutragen.1 Es wird mit ca. 214.000 Euro für die Bodensanierung gerechnet. Ein Teil der für das Projekt insgesamt vorgesehenen 3,1 Millionen Euro (ohne Grunderwerb) sind also bereits ausgegeben oder verplant. Honorare und der Rückbau der vorhandenen Bebauung sind ebenfalls noch vor dem eigentlichen Bau der neuen Grünflächen zu berücksichtigen.
Wie kam es dazu, dass der Bezirk sich die Grundstücke nicht schon vor längerer Zeit gesichert hat und letztlich den aktuellen Verkehrswert für Gewerbeflächen bezahlen musste? Dass die Flächen teilweise schon seit 19612 unter dem Vorbehalt einer Grünflächenplanung stehen, ist eine erstaunliche Tatsache. Waren die Eigentumsverhältnisse durchaus schwierig vor 1990, so sind seither viele Jahre verstrichen, in denen das Bezirksamt untätig war und keine frühzeitigen Grünflächenplanungen eingeleitet hat. Es lag wohl letztlich am verschlampten Bauplan XI 231a, dass der Bezirk 2007 kein Vorverkaufsrecht für die Torgauer Straße 17-32 ausüben konnte. Der neue private Eigentümer3 wollte den Kauf nicht mehr rückabwickeln – und die öffentliche Hand hatte mit Sicherheit Mehrkosten. Irritierend ist hier auch ein weiteres Detail: Die Flächen Torgauer Straße 17-32 wurden nach Aussagen des Bezirksamts aus dem Jahr 2009 auf 1.450.000 Euro geschätzt, allerdings vor Abzug der Altlastenkosten und weiterer Abschläge. Dennoch zahlte man dann nicht etwa die entsprechenden rund 1.230.000 Euro, sondern die erwähnten 1.410.000 Euro.4
Von nüchternen Zahlen und ernüchternden Defiziten des Bezirksamts abgesehen, haben die unscheinbaren Gewerbeflächen an der Torgauer Straße weit mehr zu bieten, als das Auge zunächst wahrnimmt. Ein Blick auf das östliche Eckgrundstück an der Gotenstraße, also die Torgauer Straße 24-25, führt direkt in die Geschichte. Lange Zeit residierte dort eine Kohlenhandlung, ein typisches Gewerbe für die bahnnahen Flächen. Direkt hinter der Ringbahn erhoben sich auf diesem Abschnitt die Schornsteine des um 1900 gebauten Elektrizitätswerks Südwest,5 das die südliche Insel dominierte. Im Schatten dieses Großbaus wurde an der Torgauer durch die Fa. Bruno Meyer Nachfahren seit den 1910er Jahren vor allem Großhandel mit Kohlen und Brennmaterialien betrieben.
Ab 1933 gehörte die Firma Richard Krille, der gezwungen war sowohl seine Tätigkeit als Stadtverordneter als auch als Direktor der Städtischen Brennstoffgesellschaft unter der Naziherrschaft niederzulegen. In die relativ kleine Kohlenhandlung nahm er den 1937 aus KZ-Haft entlassenen früheren Reichstagsabgeordneten der SPD Julius Leber auf und machte ihn 1939 zum Teilhaber.6 Alte sozialdemokratische Kontakte hatten durchaus lukrative Aufträge z.B. bei der Belieferung von Hausverwaltungen zur Folge. Ein kleines Häuschen diente auf dem Grundstück Torgauer Straße 24-25 / Ecke Gotenstraße 547 als Büro:
„Dann kam der Mann zurück, nach ein paar Jahren, unzerbrochen, kriegte die Vertretung einer Kohlenfirma, und wir, seine Freunde, wurden fast alle so etwas wie freiwillige Unteragenten, um ihm Kunden zuzuführen. … Die zwei kleinen Zimmer in dem fragwürdigen Häuschen, nahe bei dem Bahnhof Schöneberg, zwischen den Kohlenbergen der Firma Bruno Meyer Nachf., waren eine rechte Verschwörerbude. Manchmal klingelte es an der äußeren Tür, und Leber musste dann wohl in den vorderen Raum, um einen Kunden zu vertrösten. Aber in der Hinterstube, auf verhockten Sesseln, hatte die politische Leidenschaft ihre Herberge, verachtender Hass und brennende Liebe.“
Nicht nur Theodor Heuss, der diese Zeilen schrieb, traf Leber in der Torgauer Straße, sie diente dem „Kohlenhändler“ spätestens ab 1943 immer wieder zur Kontaktaufnahme und als Treff mit Mitgliedern verschiedener aktiver Widerstandskreise, die den Umsturz des nationalsozialistischen Regimes planten.8 Nach seiner Haft war Leber in Berlin schnell Teil eines Untergrund-Netzwerks aus Sozialdemokraten und Gewerkschaftern. Ab Herbst 1943 stand er außerdem in ständiger Verbindung zum konservativen Carl Friedrich Goerdeler, zum „Kreisauer Kreis“ sowie zum militärischen Widerstand um Claus Schenk Graf von Stauffenberg, und er war in alle Pläne eingeweiht.
Der Sozialdemokrat Leber arbeitete mit den Kreisauern Helmuth James Graf von Moltke9 und dann Peter Yorck von Wartenberg ab Ende des Jahres 1943 zusammen. In der Kohlenhandlung suchte ihn auch Adam von Trott zu Solz auf, zu dem eine enge Verbindung entstand. Fritz von der Schulenburg war ein weiterer wichtiger Kontakt für Leber, der ihn Ende des Jahres 1943 mit Stauffenberg zusammenbrachte. Beide Männer waren offenbar auch Besucher der Kohlenhandlung. Dort fand in dieser Zeit auch das erste Treffen zwischen Ludwig Beck und Julius Leber statt. In erstaunlich kurzer Zeit hatte Leber eine wichtige Schlüsselstellung innerhalb dieser Widerstandkreise inne, in denen er sich als einer der wenigen ehemaliger Berufspolitiker vor allem auch durch großen Pragmatismus und politische Erfahrung auszeichnete. In ihrem „Schattenkabinett“ war er als Innenminister vorgesehen.10
Waren sich die Widerständler in ihren Anschauungen über die zukünftige politische Ordnung Deutschlands nie einig geworden, so war die Ausweitung der Kontakte in Richtung der kommunistischen Opposition im Untergrund erst recht umstritten. Leber befürwortete ein Treffen im Frühsommer 1944. Am 22. Juni kam mit seiner Beteiligung eine erste Begegnung zustande. Beim zweiten vereinbarten Termin kam es zur Verhaftung von Adolf Reichwein. Leber, der nicht dabei war, wurde einen Tag später in der Kohlenhandlung abgeholt, am 5. Juli 1944.11 Dort hatte es schon am 24. März einen erheblichen Bombenschaden gegeben. Dennoch ging das Geschäft weiter so gut es ging. Das Büro wurde gegenüber eingerichtet im Haus Torgauer Straße 7, wo es ebenfalls zu Schäden gekommen war.
Nach den Verhaftungen drängte die Zeit, das immer wieder aufgeschobene Attentat auf Hitler auszuführen. Nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Ereignisse nutzte Stauffenberg am 20. Juli 1944 die dritte Gelegenheit eines Zusammentreffens in jenem Monat zum Anschlag auf Hitler. Der Ausgang ist bekannt. Kurze Zeit später wurde den Nazis klar, dass der in Gefangenschaft befindliche Leber in die Umsturzpläne direkt involviert gewesen war. Er wurde schwer gefoltert. Seine Frau Annedore kam in Haft, um weiteren Druck auszuüben. Leber wurde in Schöneberg vor Freislers Volksgerichtshof im Kammergericht an der Elßholzstraße schließlich am 20. Oktober 1944 zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde sechs Monate nach der Verhaftung am 5. Januar 1945 in Plötzensee vollstreckt.
Das Grundstück der Kohlenhandlung war seit 1944 schwer beschädigt. Das Vermögen von Leber wurde von den Nazis beschlagnahmt, die den Mitinhaber Richard Krille zeitweilig ebenfalls inhaftierten. Trotzdem war das nicht das Ende des Unternehmens an der Torgauer Straße. Nach dem Krieg führte Annedore Leber die Kohlenhandlung weiter, und sie betrieb einen Verlag, der ebenfalls an der Torgauer Straße residierte. Ein kleiner Neubau war 1950 möglich, damit ein neues Büro eingerichtet werden konnte.12 Dort war Annedore Leber bis zu ihrem Tod 1968 tätig, und sie hielt die Erinnerung an ihren Mann und die Widerstandsbewegung wach. Aktiv war sie außerdem als Politikerin in der Nachkriegszeit und zwar sowohl im Abgeordnetenhaus als auch im Bezirk Zehlendorf.
Bis heute hat sich Annedore Lebers Häuschen direkt an der Straße erhalten. Allerdings kam es Anfang der siebziger Jahre zu Umbauten, als eine neue Firma zum Pächter wurde. So ist das Haus nicht mehr in seinem ursprünglichen Zustand erhalten. Außerdem wurde 1998 direkt daneben ein zweites Häuschen gesetzt.
In den achtziger Jahren war es die Geschichtswerkstatt, die die Aufmerksamkeit wieder auf diesen historischen Ort lenkte.13 Ein Antrag der Grünen in der BVV Tempelhof-Schöneberg 2009 machte die Kohlenhandlung als Gedenkort im Rahmen der Umgestaltung der Torgauer Straße zum Thema. Er wurde angenommen und hatte eine Mitteilung zur Kenntnisnahme aus dem Bezirksamt zur Folge, die eine blamable Unkenntnis des Ortes dokumentiert.14 Hinter verschlossenen Türen wurde jedoch eifrig weitergeplant. Nun will man im Zuge der Grünplanungen an der Torgauer Straße ein „Denkzeichen“ für Julius und Annedore Leber setzen, zu welchem Zweck ein beschränkter künstlerischer Wettbewerb im April ausgelobt worden ist. Der Teilnehmerkreis ist klein, die Mittel für das Projekt bescheiden. Man darf gespannt auf das Ergebnis sein.
Der Name der kleinen unauffälligen Straße auf der Roten Insel, von der hier jetzt schon zum vierten Mal die Rede ist, reicht im Übrigen weit zurück in die preußische Militärgeschichte. Am 14. Juni 1893 erhielt die Torgauer Straße durch einen Beschluss der Gemeinde Schöneberg ihren Namen. Patriotisch sollte er wie einige weitere an die Schlachten Friedrichs II. aus dem Siebenjährigen Krieg erinnern, und natürlich vor allem an die siegreichen: Leuthen (1757), Roßbach (1757) und Torgau (1760). Als Schlachtennamen nicht mehr en vogue waren erhielt 1947 die Leberstraße ihren Namen.15 Am 16.11.1956 kam es zur Benennung der Brücke an der Kolonnenstraße nach Julius Leber und zur offiziellen Einweihung der heute noch vorhandenen Tafel.
Über das Grundstück Torgauer Straße 17 soll u.a. die neue Planstraße zur Erschließung des Kerngebiets (Euref) auf dem Gaswerksgelände verlaufen. Reinhard Müller hat im Übrigen für den größten Teil des vormaligen GASAG-Geländes nur 1 Mio Euro gezahlt. ↩
z.B. das Grundstück Torgauer Straße 24-25 ↩
Es handelt sich um die Gruppe Mamrud/Smuskovics, die von der Vivico weitere Flächen erwarb, die sie zwischenzeitlich wieder abgestoßen hat. Die Rede ist vor allem von den ehemaligen Bahnflächen an der Eylauer Straße. Als Grund des Erwerbs ist in diesen beiden Fällen wohl Grundstücksspekulation anzunehmen, der von der Vivico Vorschub geleistet wurde. Gleichzeitig hat der Bezirk an der Eylauer Straße ein großzügiges Baurecht in Planung. ↩
Zahlen und Informationen sind einer Großen Anfrage der SPD (Drucksache 1079/XVII) und den Kleinen Anfragen Nr. 338 (Mai 2009), Nr. 555 sowie Nr. 556 (jeweils Februar 2011) entnommen. ↩
Es bestand bis in die 1960er Jahre und wurde danach abgerissen. ↩
Die Vermittlung hatte Lebers Freund Gustav Dahrendorf übernommen, der selber im Brennstoffhandel tätig war. ↩
Ältere Adressbezeichnungen vor der Einführung von Hausnummern war „Lagerplatz 20“. ↩
Siehe dazu die Biografie von Dorothea Beck (1983) und Heinrich-Wilhelm Wörmann „Widerstand in Schöneberg und Tempelhof“ (2002). ↩
Vor seiner Verhaftung am 19.1.1944 suchte Moltke Leber mindestens einmal auch in der Kohlenhandlung auf. ↩
Im weiteren Verlauf war er auch für die Position des Kanzlers im Gespräch. ↩
Offenbar gab es einen Spitzel unter den Kommunisten, der das Treffen und die Beteiligten verriet. ↩
Bauakte ab 1950 ist erhalten. Wie ähnlich der Neubau dem Vorgänger war, ist nicht bekannt. Bauliche Unterschiede sind jedoch sehr wahrscheinlich. ↩
Julius Leber ist ein Kapitel in dem Buch „Die Rote Insel“ gewidmet. ↩
Drucksache 0994/XVIII vom 9.2.2010 ↩
Unter den Nazis war die vormalige Sedanstraße nach einem SA-Mann in Franz-Kopp-Straße umbenannt worden. Er war 1933 an der Torgauer / Ecke Gotenstraße niedergeschossen worden. Hintergründe des Todes sind offenbar nicht genauer bekannt. ↩
Danke für diesen informativen Text. Arbeite um die Ecke und bin gespannt wie es weitergeht.